Ableitungen aus den Evaluationsergebnissen

8. Wie gut wird das eigenverantwortliche Selbststudium unterstützt und begleitet?

b) Verhältnis von Selbst- und Fremdsteuerung
Das Selbststudium soll das eigenverantwortliche Lernen der Studierenden fördern. Das heißt nicht, dass es der Selbstständigkeit der Studierenden allein überlassen sein sollte. Besonders in den ersten Semestern ist häufig eine gewisse Steuerung durch die Lehrenden von Nöten. Es gilt, das richtige Maß an Zwang und Selbstständigkeit zu finden.

„Effektives Lernen erfordert die eigenständige, aktive Auseinandersetzung einer Person mit ihrer Umwelt und ist daher abhängig von der Bereitschaft der Lernenden zu einer solchen Interaktion“ (Reinmann, 2005). Diese Bereitschaft kann durch die Lehrenden nicht direkt gesteigert werden. So wie Lernen nicht durch Lehrer „gemacht“ werden kann.

Allerdings nehmen Hochschullehrer indirekt Einfluss auf die Motiviertheit der Studierenden. Sozialpsychologen untersuchen das Verhalten von Menschen in Abhängigkeit der Situation, in der Sie sich befinden.

Dabei fällt auf, dass Persönlichkeitsmerkmale situativ aktiviert werden. Ein aktiviertes Selbst wird in Abhängigkeit der Situation gezeigt. „Der soziale Kontext beeinflusst, wer Sie sind, wie Sie denken und was Sie tun“ (Fine, 2012). Im alltäglichen Umgang wird das Verhalten von Menschen tendenziell jedoch der Art und Weise, „wie sie sind“ zugeschrieben und nicht der Situation, in der sie sich befinden. LEE ROSS (1977) beschrieb diesen Effekt als fundamentale Attributionsfehler. Studierende „sind“ demzufolge nicht faul. Studierende „zeigen“ in gewissen Situationen häufiger nachlässiges Verhalten. Möchten Sie auf das Lernverhalten der Studierenden außerhalb der Präsenzveranstaltungen Einfluss nehmen, sollten Sie versuchen, durch das Setzen von Rahmenbedingungen und Anreizen die Situationen zu modifizieren, in denen die Vor- und Nachbereitungen erfolgen.

Verbindlichkeiten (z. B. Festlegung der Lernsequenzen, Qualitätsstandards, Abgabefristen, Prüfungstermine), Unterstützungs- und Beratungsangebote, informierende und kontrollierende Feedbacks zu Zwischen- und Abschlussergebnissen und eine anerkennende Haltung gegenüber erbrachten Leistungen bilden einen förderlichen situativen Referenzrahmen – neben den Freiräumen des Selbststudiums (z. B. durch Wahl der Lernorte und -zeiten, der inhaltlichen Schwerpunkte) (Zellweger Moser & Jenert, 2011).

Die Gretchenfrage des Selbststudiums ist die Frage nach dem Verhältnis aus Zwang und Bewusstheit. Wie viel Zwang und Kontrolle müssen Sie auf Ihre Studierenden ausüben, damit sich diese außerhalb des Hörsaals mit einem Lerngegenstand auseinandersetzen? Welchen Freiheitsgrad wählen Sie, damit Studierende Selbstständigkeit und Eigenverantwortung entwickeln können?

mögliche Ansätze zur Gestaltung von Selbst- und Fremdsteuerung

„Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die uns in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt“ (Humboldt, 1851).

Individuelles Selbststudium bezeichnet die nicht durch spezielle Aufträge strukturierte Lernzeit der Studierenden. Diese setzen sich mit einem Lerngegenstand auseinander, ohne dass dafür ein eng umrissener Lern- und Arbeitsauftrag erteilt wird oder der Prozessverlauf vorgegeben wird. Zu den Studienaktivitäten gehören:

  • individuelles Aufarbeiten des in der Präsenzveranstaltung vorgetragenen Stoffs
  • Klärung von Verständnisschwierigkeiten
  • Memorieren wichtiger Inhalte
  • Wiederholung der Übungsaufgaben

Da das individuelle Selbststudium überwiegend der Prüfungsvorbereitung dient, bilden Angaben zum Prüfungsstoff einen Orientierungsrahmen und damit eine Beeinflussungsmöglichkeit für die Lehrenden (Landwehr & Müller, 2008).

Die Forderung nach einem eigenverantwortlichen Lernen der Studierenden trifft auf eine ganze Reihe von Lernhindernissen, wie die Tendenz, unangenehme Tätigkeiten aufzuschieben oder die Lücken im Vorwissen, welche die selbstständige Bearbeitung von Lerngegenständen erschweren. Möchten Lehrende das nachhaltige Lernen der Studierenden im Rahmen des Selbststudiums verbessern, so sind damit Steuerungs- und Unterstützungsaufgaben verbunden. Diese Aufgaben kommen in verschiedenen Phasen des Selbststudiums zum Tragen (Landwehr & Müller, 2008).

In der Phase des Initiierens soll der Übergang vom fremd- zum selbstgesteuerten Lernen vollzogen werden. Das Selbststudium soll mit zum Curriculum passenden Aufgaben gefüllt und günstige Voraussetzungen für eigenverantwortliches Lernen geschaffen werden.

Teilaufgaben der Phase 1:

  • Formulierung der Aufgabenstellung und Rahmenvorgaben (Suche nach passenden Aufgaben und Festhalten von Beurteilungskriterien oder gewünschten Lernergebnisse)
  • Klärung des didaktischen Kontextes und des Lerngehalts (Vorstellen von Lernzielen und Geben curricularer Informationen)
  • Einführung der Studierenden in die Aufgabenstellung (prägnante Umschreibung der Aufgabenstellung; transparente Darstellung der Anforderungen; Aufzeigen der Ziele; Klärung von Rahmenbedingungen und Verbindlichkeiten)
  • Beachtung spezieller Anliegen der Prozessgestaltung (einzusetzende Methoden; Erfolgskriterien; Unterlagen und Instrumente) (Landwehr & Müller, 2008)

Coaching wird an der Stelle im Sinne einer Unterstützungsfunktion aufgefasst. Das heißt, dass Lehrende ohne steuernde Absichten das Selbststudium begleiten und die Steuerung des Lern- und Arbeitsprozesses den Studierenden obliegt. Es ist Zurückhaltung geboten. Eingriffe sind auf eine mögliche Gefährdung der Selbststeuerung und Eigenverantwortlichkeit der Studierenden hin zu prüfen. Dennoch bleiben Lehrende in dieser Phase bedeutsam. Auf die Studierenden lauern vielfältige Unklarheiten und Schwierigkeiten, welche den Lern- und Arbeitsprozess blockieren und mit Hilfe der Lehrenden beseitigt werden können:

  • fehlende Informationen, fehlendes Vorwissen, mangelndes Verständnis der Zusammenhänge
  • Verfolgung falscher oder irreführender Lösungswege
  • Konflikte innerhalb der Lerngruppe
  • fehlende Arbeitsplanung, mangelnde individuelle Arbeitsdisziplin (Landwehr & Müller, 2008)

Indem Lehrende sich einen Überblick über den Stand der Arbeit verschaffen und das Einhalten von Rahmenvereinbarungen und vereinbarten Ziele überprüfen, nehmen Sie in der Begleitung des Selbststudiums auch eine Steuerungsaufgabe wahr. Hierzu zählen Tätigkeiten, wie:

  • Sichtung und Beurteilung bisheriger geleisteter Arbeit
  • Geben von Hinweisen und weiterführender Anregungen
  • Einforderung der vorgegebenen Rahmenbedingungen (bspw. Abgabetermine)
  • eventuell Abstimmung und Koordinierung verschiedener Arbeitsgruppen
  • Förderung der Motivation

In der Praxis werden Coaching und Controlling in den Gesprächen mit den Studierenden verbunden. Für Lehrende kann es jedoch hilfreich sein, die beiden Aspekte getrennt vorzubereiten (Landwehr & Müller, 2008).

Antizipieren die Studierenden, dass die geleistete Arbeit zur Kenntnis genommen und gewürdigt wird, fördert dies die Motivation, sich auch außerhalb der Hochschule mit einem Lerngegenstand zu beschäftigen. Werden die Ergebnisse des Selbststudiums präsentiert, ist Engagement und nachhaltiges Lernen der Studierenden wahrscheinlicher als das Aufkommen einer Erledigungsmentalität.

Die Formen der Ergebnispräsentation lassen sich nach der Zielgruppe der Präsentation unterscheiden:

Vorstellung der Ergebnisse
in der Seminargruppe
Ergebnissichtung durch Lehrende
Profitierung der gesamten Seminargruppe von der Arbeit Vorenthaltung des Lerngehalts vor den übrigen Seminargruppenmitgliedern
Schulung der mündlichen Präsentationskompetenz Schulung der schriftlichen Formulierung
größerer Vorbereitungsaufwand für die Studierenden hoher Zeitaufwand für die Lehrenden
Zeit in der Präsenzveranstaltung benötigt Ergebnissichtung meist innerhalb der vorlesungsfreien Zeit
Seminargruppe als zusätzlicher Motivations- und Verbindlichkeitsfaktor für die Fertigstellung der Arbeit Gefahr der einseitigen Wahrnehmung als Instrument der Lernkontrolle

(Landwehr & Müller, 2008)

Im Rahmen der letzten Phase kommen im Wesentlichen drei Aufgaben auf die Lehrenden zu: Bewerten, Rückmelden und Unterstützen der Prozessreflexion.

Bewertung

Der Soll-Ist-Vergleich zum Abschluss des begleiteten Selbststudiums hat eine lernorientierte (formative) und rechenschaftsorientierte (summative) Funktion.

  • Eine lernorientierte Bewertung wird gegeben, wenn den Lernenden Einsichten in die Stärken und Schwächen der geleisteten Arbeit ermöglicht wird. Es können richtige und falsche Ergebnisse identifiziert und Anhaltspunkte für das weitere Lernen gegeben werden.
  • Wird an den Arbeitsauftrag ein Leistungsnachweis gekoppelt, muss eine rechenschaftsorientierte Bewertung (Beurteilung) erfolgen, ob die Arbeit die (Minimal-) Kriterien zum Bestehen erfüllt.

Der Bewertungsprozess sollte anhand von expliziten Bewertungskriterien durchgeführt werden. Im besten Fall werden den Studierenden die geltenden Bewertungskriterien bei der Vergabe des Arbeitsauftrages offen gelegt.

Formen der Rückmeldungen

Für die Gestaltung der Rückmeldungen sind verschiedene Varianten möglich:

  • mündliche und/oder schriftliche Rückmeldungen
  • öffentliche Rückmeldungen oder exklusiv für die an der Arbeit direkt Beteiligten
  • mögliche Selbstbeurteilung der Arbeit durch die Studierenden

Soll das Selbststudium von Studierenden als ein tragendes Element des Studiums verstanden werden, sind hierfür differenzierte Rückmeldungen an die Studierenden eine Voraussetzung. Lediglich pauschale, wenn auch positive Rückmeldungen kommen diesem Ziel nicht näher.

Unterstützung der Prozessreflexion

Ein begleitetes Selbststudium stellt nicht automatisch die Förderung von überfachlichen Kompetenzen sicher. Erst eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Lernprozess fördert Sozial-, Selbst- und Methodenkompetenz:

  • Stellen Sie Zeit für Erfahrungsaustausch und kritische Reflexion zur Verfügung.
  • Wenn nötig, strukturieren Sie die Reflexion mit Leitfragen zum methodischen Vorgehen, zu Prozessen in den Gruppen oder zum Umgang mit Stolpersteinen.
  • Lernportfolios können hilfreich sein, um den Lernprozess zu dokumentieren (Landwehr & Müller, 2008).