Ableitungen aus den Evaluationsergebnissen

1.1 Wie schätzen Sie das Anforderungsniveau der Lehrveranstaltung ein? Überforderung

c) zu anspruchsvolle Inhalte - Beachtung des Vorwissens
Lernen ist die Verbindung von neuen Informationen mit vorhandenem Wissen. Können keine Verbindungen hergestellt werden, wird der Stoff nicht gelernt. Das Vorwissen der Studierenden ist demnach entscheidend für deren Lernen.

„Man lernt nicht nur etwas, indem man es rezeptiv aufnimmt, sondern indem man das Fremde mit dem Eigenen verknüpft.“ (Göhlich & Zirfas, 2007)

Das Vorwissen von Lernenden korreliert stärker mit deren Lernerfolg als die Intelligenz und deutlich stärker als die Motiviertheit der Lernenden (Helmke & Weinert, 1997). Aus der Soziologie wurde daher die Bezeichnung „Matthäus-Effekt“ übernommen, um den Grundsatz der positiven Rückkopplung zu beschreiben. Je mehr Vorwissen vorhanden ist, desto höheren Nutzen können Lernende aus dem bereitgestellten Lernangebot ziehen. Wer viel weiß, lernt viel hinzu.

Lernen ist ein selbstreferenzieller, rückbezüglicher Prozess: Erfahrung baut auf früheren Erfahrungen auf, Wissen entsteht aus vorhandenem Wissen. Lernen im Erwachsenenalter ist grundsätzlich „Anschlusslernen“. Gelernt wird nicht, was einem gesagt wird, sondern was als relevant, bedeutsam, integrierbar erlebt wird (Siebert, 2012).

mögliche Ansätze der Beachtung des Vorwissens

Versuchen Sie daher, innerhalb der ersten Wochen das Vorwissen der Studierenden abzuschätzen oder zu erfassen (z. B. durch Nachfragen, offene oder geschlossene Fragen, durch schriftliche Befragungen oder Leistungstests). Sollte es einer kleinen Gruppe von Studierenden an Hintergrundwissen mangeln, könnten Sie diesen Studierenden empfehlen, die Wissenslücken selbstständig durch Wiederholung des Stoffes zu schließen (z. B. stellen Sie Sonderaufgaben oder die Zusammenfassung früherer und anderer Veranstaltungen zur Nacharbeitung des Stoffes bereit). Mangelt es einer größeren Gruppe von Studierenden an Vorwissen, sollten Sie eine zusätzliche Unterrichtszeit oder ein zusätzliches Tutorium zum Nachholen des Grundlagenwissens anbieten. Sollte die Mehrheit der Studierenden über für Ihre Lehrveranstaltung essentielles Wissen nicht verfügen, sollten Sie die Grundlagen selbst wiederholen. Das würde zwar bedeuten, dass Sie Ihre Erwartungen an die Ergebnisse Ihrer Lehrveranstaltung insgesamt zurückfahren müssten, ist jedoch einem unbeirrten Fortsetzen dringend vorzuziehen.

Eine Vielzahl der Studierenden verfügen bereits über berufliche Erfahrungen. Diese könnten im Sinne eines effektiven Lernens genutzt werden.

Lassen Sie die Studierenden zu vermittelten Fakten oder Prinzipien Beispiele aus der Arbeitswelt finden (deduktive Methode). Oder betrachten Sie mehrere Einzelfälle aus der Vergangenheit der Studierenden und gewinnen Sie daraus allgemeine Aussagen (induktive Methode).

Überkommene Vorstellung, populäre Irrtürmer und Mythen sind in allen Fachgebieten zu finden:

  • Astronomie: Die Jahreszeiten entständen durch die unterschiedliche Distanz von Sonne und Erde.
  • Didaktik: Studierende würden am besten lernen, wenn die Lernmethoden an deren Lerntypen angepasst werden.
  • Psychologie: Wut müsse kontrolliert abgebaut werden.
  • Physik: Masse und Gewicht wären Synonyme.
  • Sportwissenschaft: Muskelkater würde durch die Übersäuerung der Muskulatur entstehen.

Überkommene Vorstellungen sind einerseits recht veränderungsresistente mentale Modelle. Deren Umlernen kann sich als schwierig erweisen. Verursacht werden solche Lernschwierigkeiten durch die „Tendenz des Gehirns, bereits Gelerntes im Angesicht neuer Erfahrungen, die im Widerspruch dazu stehen, zu beschützen und zu bewahren“ (Winteler, 2004). Studierende sind also nicht prinzipiell in der Lage, das neu erworbene Wissen in die bestehenden Wissensstrukturen zu integrieren.

Andererseits kann das Entlarven von Irrtürmern und Mythen zu Widerspruch, Aufmerksamkeit, „Aha-Erlebnissen“ und schließlich zu effektivem Lernen führen. Hierfür müssen Studierende allerdings angehalten werden, Widersprüche zu ihrem bestehenden Wissen zu identifizieren (conceptual-change strategy). Thematisieren Sie daher gängige Irrtümer und Mythen zu Ihrem Fachgebiet und fordern Sie die Studierenden auf, weitere Widersprüche zu ihren bisherigen Auffassungen zu finden.

Bleibt dies aus, vertrauen Studierende weiterhin auf ihr bestehendes Wissen und lernen neue Begriffe und Prinzipien auswendig ohne sie zu verstehen. Oder sie lernen „nur die Teile, die ihr bestehendes (auch falsches) Verständnis bestätigten.“ (Winteler, 2004)

„Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, bevor ich nicht die Antwort des anderen darauf gehört habe.“ (Norbert Wiener)

Wenn Sie die Unterrichtsgeschwindigkeit der Verarbeitungs- und Lerngeschwindigkeit der Studierenden anpassen wollen, benötigen Sie Feedbacks zu deren Lernfortschritten. Sie müssen Lernen „sichtbar machen“ (Hattie, 2009). Informieren Sie sich mittels Kurzprüfungen (drei Fragen in 5 Minuten) während des Semesters über das, was die Studierenden verstanden haben. Oder lassen Sie sich in einem „one-minute-paper“ von den Studierenden in der letzten Minute der Lehrveranstaltung aufschreiben, was interessant war und was (noch) nicht verstanden wurde. Geben Sie Rückmeldungen zu den Ergebnissen der Befragung und greifen Sie noch nicht Gelerntes erneut auf. Eine weitere Möglichkeit, Lernfortschritte sichtbar zu machen, ist die „Classroom Assessment Techniques“.